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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Südafrikas Klage gegen Israel

Was uns täg­lich an gna­den­lo­sen Mas­sa­kern und bru­tal­ster Zer­stö­rung in Gaza über die Bild­schir­me gelie­fert wird, über­trifft bei wei­tem das, was wir am 7. Okto­ber 2023 an Gewalt und schockie­ren­den Grau­sam­kei­ten sehen muss­ten. Es ist aber nur die Explo­si­on einer Gewalt, die seit weit über 55 Jah­ren ein Volk mit Armee und Sied­lern in einer gna­den­lo­sen Besat­zung gefan­gen hält. Jahr­zehn­te­lang konn­te die Regie­rung in Jeru­sa­lem der Unter­stüt­zung und Rücken­deckung durch die USA und Deutsch­land sicher sein, kein Gerichts­hof in Den Haag konn­te inter­ve­nie­ren, und die UNO war macht­los. Das hat sich in den letz­ten Jah­ren geän­dert. Inzwi­schen ermit­teln sowohl der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof wie der Inter­na­tio­na­le Gerichts­hof (IGH) wegen schwe­rer Kriegs­ver­bre­chen und Ver­stö­ßen gegen das Völ­ker­recht gegen Israel.

Ende Dezem­ber 2023 reich­te nun Süd­afri­ka eine Kla­ge gegen Isra­el mit dem Vor­wurf des Völ­ker­mords beim Inter­na­tio­na­len Gerichts­hof ein und for­der­te die sofor­ti­ge Ein­stel­lung der Waf­fen­ge­walt. Dazu konn­te sich das Rich­ter­gre­mi­um nicht ent­schlie­ßen, und der Vor­wurf des Völ­ker­mor­des wird erst in den fol­gen­den Jah­ren das Gre­mi­um beschäf­ti­gen und kann lan­ge dau­ern. Das Gericht räum­te aber ein, dass ein Völ­ker­mord bei Fort­dau­er der Kampf­hand­lun­gen plau­si­bel sei. Daher, so das Gericht, müs­se Isra­el alle Maß­nah­men ergrei­fen, um einen Völ­ker­mord in Gaza zu ver­hin­dern, und sicher­stel­len, dass sein Mili­tär kei­ne völ­ker­mör­de­ri­schen Hand­lun­gen begeht. Es müs­se die Auf­sta­che­lung und Anstif­tung zum Völ­ker­mord ver­hin­dern und bestra­fen. Außer­dem müs­se es die kata­stro­pha­len Lebens­be­din­gun­gen im Gaza­strei­fen besei­ti­gen und huma­ni­tä­re Hil­fe zulassen.

Der palä­sti­nen­si­sche Außen­mi­ni­ster Riyad al-Mali­ki begrüß­te das Urteil als »eine wich­ti­ge Erin­ne­rung dar­an, dass kein Staat über dem Gesetz steht«. Doch »erin­nern« – was haben die Men­schen in Gaza davon? Für sie hat Isra­el immer über dem Gesetz gestan­den und nie auf Erin­ne­run­gen oder Mah­nun­gen reagiert. Isra­el brauch­te nicht zu reagie­ren und hat, wie wir täg­lich sehen kön­nen, nicht reagiert, weil die USA und auch Deutsch­land allen Regie­run­gen in Jeru­sa­lem den Rücken frei­hiel­ten. Netan­ja­hu hat bis heu­te, trotz zuneh­men­der Kri­tik, nie auf sein Ziel ver­zich­tet, die Hamas zu ver­nich­ten. Der Preis, den die Men­schen in Gaza bis­her haben zah­len müs­sen, war dem Gericht bekannt. Es hat die detail­lier­ten Fak­ten des Grau­ens, wel­che Süd­afri­ka in sei­ner Kla­ge vor­ge­legt hat, nicht in Zwei­fel gezo­gen. Des­halb ist das Urteil ent­täu­schend für die Men­schen in Gaza.

Schon zwei Tage nach der Ent­schei­dung mel­de­te Gaza wie­der 200 Tote. Jeden Tag wer­den immer noch über 100 Tote gezählt und fast dop­pelt so vie­le Ver­letz­te. Über 32.000 Tote, die unter den Trüm­mern ver­schüt­te­ten Lei­chen nicht mit­ge­zählt, und über 74.000 Ver­letz­te seit dem 7. Okto­ber 2023, und jeden Tag kom­men mehr hin­zu. Nichts hat sich seit der Ent­schei­dung des Inter­na­tio­na­len Gerichts­hofs geändert.

Am 25. März ver­ab­schie­de­te der UN-Sicher­heits­rat die Reso­lu­ti­on 2728, die einen sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand im Gaza­strei­fen »for­dert«. Am sel­ben Tag leg­te Fran­ce­s­ca Alba­ne­se, die Son­der­be­richt­erstat­te­rin für die Lage der Men­schen­rech­te in den besetz­ten palä­sti­nen­si­schen Gebie­ten, dem UN-Men­schen­rechts­rat einen 25-sei­ti­gen Bericht mit dem Titel »Ana­to­mie eines Völ­ker­mords« vor. Alba­ne­se fand »ver­nünf­ti­ge Grün­de« für die Annah­me, dass Isra­el im Gaza­strei­fen einen Völ­ker­mord begeht. Sie emp­fahl den UN-Mit­glieds­staa­ten: »Sofort ein Waf­fen­em­bar­go gegen Isra­el zu ver­hän­gen, da es offen­sicht­lich die vom IGH am 26. Janu­ar 2024 ange­ord­ne­ten ver­bind­li­chen Maß­nah­men nicht ein­ge­hal­ten hat, sowie ande­re wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Maß­nah­men zu ergrei­fen, die not­wen­dig sind, um einen sofor­ti­gen und dau­er­haf­ten Waf­fen­still­stand zu gewähr­lei­sten und die Ach­tung des Völ­ker­rechts wie­der­her­zu­stel­len, ein­schließ­lich Sanktionen.«

Isra­el erklär­te in einer Pres­se­mit­tei­lung, dass es Alba­ne­ses Bericht »aufs Schärf­ste zurück­weist« und nann­te ihn »eine obszö­ne Ver­dre­hung der Realität«.

Drei Tage spä­ter, am 28. März, wies der Inter­na­tio­na­le Gerichts­hof Isra­el an, die »unge­hin­der­te Bereit­stel­lung« huma­ni­tä­rer Hil­fe für den Gaza­strei­fen zu gewähr­lei­sten, unter ande­rem durch die Öff­nung wei­te­rer Land­über­gän­ge, und sicher­zu­stel­len, dass sein Mili­tär kei­ne völ­ker­mör­de­ri­schen Hand­lun­gen begeht, etwa durch die Behin­de­rung drin­gend benö­tig­ter huma­ni­tä­rer Hil­fe. Am 4. April kün­dig­te Isra­el die Öff­nung wei­te­rer Grenz­über­gän­ge für Hilfs­lie­fe­run­gen an, um – wört­lich – »den Krieg gegen die Hamas fortzuführen«.

Das Gericht konn­te sich zu kei­ner For­de­rung nach einem Waf­fen­still­stand ent­schlie­ßen, ver­wies aber auf die Ver­ab­schie­dung der Reso­lu­ti­on 2728 des Sicher­heits­ra­tes, in der es heißt: »Die Palä­sti­nen­ser im Gaza­strei­fen erlei­den ein ent­setz­li­ches Aus­maß an Hun­ger und Leid. Dies ist die höch­ste Zahl von Men­schen, die jemals von kata­stro­pha­lem Hun­ger betrof­fen waren, die das Inte­grier­te Klas­si­fi­zie­rungs­sy­stem für Ernäh­rungs­si­cher­heit irgend­wo und irgend­wann erfasst hat. Dies ist eine von Men­schen ver­ur­sach­te Kata­stro­phe, und der Bericht macht deut­lich, dass sie gestoppt wer­den kann.«

Sie­ben der 16 Rich­ter am IGH hät­ten auch einen sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand ange­ord­net, wie ihn Süd­afri­ka in sei­nem Völ­ker­mord­ver­fah­ren gegen Isra­el gefor­dert hat­te. Die Stim­men reich­ten jedoch nicht aus, um die­se vor­läu­fi­ge Maß­nah­me anzuordnen.

In der Zwi­schen­zeit hat die Regie­rung Biden in aller Stil­le die Lie­fe­rung von Kampf­jets und Bom­ben im Wert von Mil­li­ar­den von Dol­lar an Isra­el geneh­migt. Die Geneh­mi­gun­gen für Waf­fen­lie­fe­rung haben sich in Deutsch­land seit dem 7. Okto­ber ver­zehn­facht. Unbe­ein­druckt hat­te Isra­el schon unmit­tel­bar nach dem Urteil am 26. Janu­ar ver­kün­det, dass die Armee in den Süden nach Rafah an der ägyp­ti­schen Gren­ze vor­rücken wer­de, wo über 1,3 Mio. Men­schen Zuflucht vor den Angrif­fen der israe­li­schen Armee gesucht haben. Dort herrscht jetzt Panik.

Die man­geln­de Ver­sor­gung der über­le­ben­den Bevöl­ke­rung hat sich zu einer Hun­ger­ka­ta­stro­phe aus­ge­wei­tet. Hun­ger wird von Isra­el als Kriegs­waf­fe ein­ge­setzt. Von den 36 Kran­ken­häu­sern sind 24 zer­stört, den letz­ten Kli­ni­ken feh­len Medi­ka­men­te und Per­so­nal. Die Armee scheut sich nicht ein­mal, das Al-Schi­fa-Kran­ken­haus, das größ­te der noch ver­blie­be­nen Kran­ken­häu­ser, und inter­na­tio­na­le Hilfs­kon­vois anzu­grei­fen – das sind wei­te­re schwe­re Kriegsverbrechen.

Die Schutz­mäch­te Isra­els, USA und BRD, begnü­gen sich mit Mah­nun­gen zur Mäßi­gung und Beach­tung des huma­ni­tä­ren Völ­ker­rechts und wer­fen Care-Pake­te von oben ab, damit der Krieg unten wei­ter­ge­hen kann. Was für eine Per­ver­si­tät der Poli­tik – und unse­ren Medi­en fällt das offen­bar gar nicht auf.

Die Ankla­ge Süd­afri­kas hat der inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit nicht nur das abso­lu­te poli­ti­sche und mora­li­sche Desa­ster eines Staa­tes prä­sen­tiert, der sei­ne gan­ze Legi­ti­ma­ti­on selbst aus einem Völ­ker­mord, dem Holo­caust, schöpft. Sie doku­men­tiert auch den Absturz all der poli­ti­schen und mora­li­schen Wert­an­sprü­che der Freun­de Isra­els – ins­be­son­de­re der USA und Deutsch­lands –, das Schei­tern einer bedin­gungs­lo­sen Unter­stüt­zung bis in den mora­li­schen Unter­gang. Der Scha­den für das Anse­hen in der nicht­eu­ro­päi­schen Welt ist jetzt schon spür­bar. Sie kön­nen sich von der Ver­ant­wor­tung für die­se Kata­stro­phe, sowohl für die palä­sti­nen­si­sche wie auch die israe­li­sche Gesell­schaft, nicht frei­spre­chen und machen sich der Unter­stüt­zung eines Völ­ker­mor­des schuldig.

Es bleibt nur eine klei­ne Hoff­nung: Der Pro­zess in Den Haag könn­te eine not­wen­di­ge poli­ti­sche Ent­wick­lung för­dern. Er hat jetzt noch viel deut­li­cher gemacht, dass der Frie­den zwi­schen den Völ­kern nur durch die Been­di­gung der Besat­zung, den Rück­zug der israe­li­schen Armee und der Sied­ler, die nicht in einem palä­sti­nen­si­schen Staat leben wol­len, und die Aner­ken­nung eines palä­sti­nen­si­schen Staa­tes in klar defi­nier­ten und gesi­cher­ten Gren­zen erreicht wer­den kann. Wenn der IGH mit sei­ner Ent­schei­dung und dem wei­te­ren Ver­fah­ren die­sem Ziel den Weg gebahnt hat, gebührt der Dank der Regie­rung Süd­afri­kas, die mit ihrer Kla­ge den Inter­na­tio­na­len Gerichts­hof ein­ge­schal­tet und die Öffent­lich­keit auf­ge­rüt­telt hat.